in memoriam Moria – 1. Oktober 2020
Griechenland ist das Gefängnis Europas. Moria ist die Schande Europas. Und Moria 2 heißt Kara Tepe. Das ist türkisch, also sprachlich nicht mal mehr Europa.
2013 als Abschiebeknast für 100 Menschen entstanden, bis 2015 zum EU-Hotspot für 2.800 Flüchtlinge gewuchert, der Ende 2019 ein Geschwür aus 19.000 Menschen bildet. Fatale Zustände, keine Zelte und Hygieneeinrichtungen, von den Gefangenen selbstgebaute Behausungen, Leben im Müll und katastrophale Versorgung mit Nahrung und Wasser. Immer wieder Revolten, Brände, Flucht in umgebende Olivenhaine, von Zeit zu Zeit Tote, auch Kinder. Wiederkehrend das Beklagen der Zustände, halbherzige Umsiedlungen nur der Bedürftigsten und die Forderung nach Schließung, keine Presse, keine RechtsanwältInnen. Dann 2020, trotz Überfüllung, mangelnder Hygiene und unterirdischer medizinischer Versorgung, auch noch Ausgangssperren wegen Corona. Vor 3 Wochen nun der letzte Brand. 13.000 Menschen im Lager. Reinstes Chaos. Beim Dichter Hesiod entstand erst das Chaos und dann die Erde. Auf Lesbos wurde sie jetzt wieder in diesen Urzustand zurückgeführt.
Tage nach dem Brand campieren die Menschen unversorgt auf den Straßen. Die Bezeichnung „Obdachlose“ würde unterstellen, sie hätten vorher ein Obdach gehabt. Und der Vorwurf der Brandstiftung suggeriert, dort wäre etwas erhaltenswertes verbrannt. Aber es ist nur ein Haufen Müll und Dreck verbrannt und der heißt Europa. Dort hungrige Menschen auf dem Lidl-Parkplatz, hier zum Oktoberfest Weißwurst-Pizza im Lidl-Angebot für 1,73 €. Die letzten der Morianer werden derweil von der Polizei unter Tränengas auf den Schwarzen Hügel Kara Tepe getrieben, einen ehemaligen Schießplatz.
Und die europäischen Abendländer feilschen seither wie die Kesselflicker auf dem orientalischen Basar, wer am wenigsten aufnimmt. Und nun, 3 Wochen nach dem Brand sind die ersten 139 Menschen aus Moria in Hannover angekommen. 139 von 13.000, deren Aufnahme bereits vor dem Brand zugesagt war. Wenn 1 % überhaupt noch eine Geste sind, dann ist sie sehr sehr KLEIN. 27.000 Menschen bleiben unter prekärsten Bedingungen, den Winter erwartend, auf den griechischen Inseln. Das ist HART. Und die EU-Kommission phantasiert währenddessen von „flexibler Solidarität“ und „Abschiebepatenschaften“. Das ist BITTER. Klein, hart und bitter! Die europäischen Werte im Jahr 2020. Klein, hart und bitter, wie Rosenkohl. Das neue europäische Leitgemüse. Ich fordere, die 12 Sterne auf der EU-Flagge durch Rosenkohlröschen zu ersetzen. Ist bestimmt auch lecker auf Pizza!
Flexible Solidarität, das ist der Abgesang auf Europa. Die Göttin Εὐρώπη wird heute nicht mehr von Jupiter in Gestalt eines Stiers entführt. Nein, sie wird von Sebastian Kurz und dem Rest der österreichisch-ungarischen Monarchie unter weichgekochtem, übelriechendem Rosenkohl verscharrt. Kurz & schmerzlos.
Sorry für so viel Rosenkohl und so wenig Revolution. Und Dank an alle die retten, helfen, berichten, sich empören, protestieren, sich schämen, spenden oder einfach nur ihre Hilflosigkeit ausdrücken, wenn täglich Menschenrechte in Europa mit Füßen getreten werden. Ein griechisches Sprichwort lautet: „Εκατό κλοτσιές σε ξένο κόλο δεν πονάν.“ – „Hundert Tritte auf einen fremden Hintern tun nicht weh.“ So ist es. Wir sehen zwar das Leid, falls wir noch hinschauen, aber wir spüren es nicht.
Denn das Leben geht ja weiter und die Leipziger Verkehrsbetriebe verkloppen im Oktober noch kackfrech 50 ausgemusterte Busse nach Thessaloniki. Ein coolerer move wäre es gewesen, wenn Deutschland zunächst der Jüdischen Gemeinde Thessaloniki das Geld für die Auschwitz-Fahrkarten zurückgezahlt hätte. Die griechischen Juden mussten ihr Ticket in den Tod nämlich selbst bei der Deutschen Reichsbahn bezahlen. Mal ganz abgesehen von 290 Mrd € offener Reparationsforderungen Griechenlands für die deutschen Verbrechen im 2. Weltkrieg.
Die mythologische Entführung der Europa ist heute Sinnbild für das, was zu tun ist: die Rettung Ertrinkender und die Befreiung verzweifelter Menschen aus unwürdigen Konzentrationslagern. Wo die EU und ihre Mitgliedsstaaten so kläglich versagen, kann die Menschenwürde und die Rest-Würde Europas notfalls nur noch mit zivilem Ungehorsam gerettet werden. Denn, Menschenrechte sind unteilbar und die Würde ist kein Konjunktiv!
Kulturbeitrag: Ein gutes Pferd „Fratze“